Casey Fenton ist von Zürich begeistert. Lukas Messmer

«Mein Büro passt in meinen Rucksack»

Casey Fenton, der Gründer von Couchsurfing.com, reist seit zwei Jahren um die Welt und organisiert gleichzeitig die Backpacking-Community mit über einer halben Million Nutzern. Ein Gespräch während seines Zwischenhalts in Zürich.

14. April 2008

Bei einem Computercrash im Jahr 2006 verlor Couchsurfing sämtliche Daten der Website. Viele dachten, dass es mit Couchsurfing nun endgültig vorbei sei. Was motivierte dich damals, es erneut zu versuchen? Das war die überwältigende Reaktion der Community. Innerhalb von 24 Stunden erhielt ich über 2000 Emails, die von Herzen kamen. Nicht nur solche im Stil von «Casey, keep going», sondern auch Briefe über viele Seiten mit Gründen, warum Couchsurfing weiterleben sollte. Es waren diese Emails, die mich erinnerten, dass die Leute Couchsurfing wirklich nutzen und dabei grossartige Dinge erleben. Sie wollten unbedingt, dass die Seite weiterlebt. Dieses Erlebnis hat mich und das Team von neuem begeistert. Am «Montreal Collective» haben Freiwillige die Seite von neuem aufgebaut. War das der Start einer professioneller organisierten Seite, wie wir sie heute betrachten können? Was habt ihr beim Neustart geändert? Couchsurfing erlebte viele verschiedene Phasen. Als wir begannen, war es ein Experiment, ich schaltete die Seite einfach mal auf. In diesen ersten Jahren war Couchsurfing ein Projekt, bis es mir über den Kopf wuchs und ich es nicht mehr alleine betreuen konnte. Das war ungefähr zur Zeit des Absturzes. Anstatt die Seite nur zu gebrauchen, wollten wir künftig den Nutzern die Möglichkeit geben, sich einzubringen. Wir hatten aber die Infrastruktur nicht, also entwickelten wir über die nächsten ein oder zwei Jahre all diese Systeme, wie Freiwillige auf verschiedene Art und Weisen am Projekt mitarbeiten können. Der Anfang verlief harzig, denn nicht viele Leute hatten Erfahrung mit dieser Art von Arbeit. Es ist freiwillig, es ist virtuell und es ist sehr technisch. Doch heute zahlt sich das aus, weil wir mittlerweile so viele Leute involviert haben, die hinter der Kulisse die tägliche Arbeit verrichten. Für mich ist das wunderbar, weil jetzt nicht mehr jeden Tag auf den Fingernägeln rumkauen und zittern muss: Was passiert als nächstes? Muss ich das jetzt übernehmen? Stattdessen sind jetzt so viele fantastische Fachleute beteiligt, die für mich Arbeit übernehmen. Das letzte «Collective» war in Thailand. In einem dafür gemieteten Haus arbeiteten während mehrerer Wochen Freiwillige an der Website. Was ist die Idee hinter einem «Collective»? Wir haben gemerkt, dass ein «Collective» die ideale Umgebung ist, um die anfallende Arbeit der Website zu erledigen, die teilweise vollumfängliche und konzentrierte Verfügbarkeit braucht. Einfache Arbeiten wie Leute begrüssen oder Fragen beantworten können in wenigen Minuten erledigt werden. Doch zum Beispiel die Administration der Server oder die Öffentlichkeitsarbeit nehmen viel mehr Zeit in AnspruchCouchsurfing erhält also maximale Arbeitskraft von Frewilligen, diese wiederum haben einen Wohnort, bekommen ihre Auslagen gedeckt und erleben eine fantastische Atmosphäre, die sie sonst nirgends finden. Das ist eine symbiotische Beziehung. Ein Ziel der «Collectives» ist: So viele Fachleute wie wir uns leisten können zusammenzubringen und deren ganze Konzentration für Couchsurfing zu verwenden. Erzähl uns doch deine schönsten Erlebnisse mit Couchsurfing. Eines, das ich immer wieder gerne erzähle, hatte ich in Ägypten. Ich traf einen Jungen, der auf einem Esel ritt und wanderte mit ihm durch die Wüste. An diesem Abend durfte ich mit seiner Familie in ihrer Lehmhütte am Nachtessen teilnehmen. Ich war nicht in der Lage, wirklich mit ihnen zu kommunizieren. Wir assen Taubeneier. Das Brot schnitten sie direkt auf dem Erdboden. Ich dachte, ich werde krank, aber das war mir egal (lacht). Ich erinnere mich vor allem an die Nacht, als ich draussen vor der Hütte auf einer Bank geschlafen habe. Das war so eine Art Couch – sehr unbequem. Es war Vollmond. Ich erinnere mich, wie ich kurz vor dem Einschlafen zum Himmel schaute und dachte: «Das ist unglaublich, ich möchte jedesmal, wenn ich reise, Menschen auf diese Art treffen.» Das war einer jener grossen Momente, die mich zu Couchsurfing inspiriert haben. Surfst du selbst viel? Das kommt ganz drauf an. Zeitweise surfe ich sehr viel, dann wieder überhaupt nicht für eine Weile. Wenn ich an einem «Collective» bin, couchsurfe ich eigentlich die ganze Zeit. Weil ich schon lange kein Haus mehr hatte, kann ich leider niemanden aufnehmen. An einem «Collective» hoste ich auf eine Art, weil ich ein Teil des Organisationsteams bin, helfe, das Ganze in Gang zu bringen und eine Atmosphäre zu kreieren, worin sich die Leute wohl fühlen. Ich surfe und hoste also professionell (lacht). Auf die klassische Art – die Website benutzen und übers System anfragen – reise ich weniger als ich gerne würde. Mein Plan ist, ich hoffe das klappt, nächsten September vielleicht drei Monate rund um die Welt reisen und soviele Couches surfen und Städte zu besuchen wie möglich. Du hast also keinen festen Wohnsitz? Richtig. Ich kann bei meiner Mutter oder meinem Vater übernachten, oder bei Freunden. Meine Autos stehen zurzeit in Kalifornien bei einem Haus eines Freundes. Viele Sachen von mir lagern zurzeit bei meiner Mutter im Keller, auch viele Kleider. Mein Büro passt in meinen Rucksack. Dazu habe ich noch einen kleinen Rollkoffer, das ist alles. Seit zwei Jahren arbeitest du nur noch für Couchsurfing. Du bist also immer irgendwo unterwegs? Wenn du wie ein Tourist reist und einfach Schauplätze abklapperst bist du nach einer Weile ausgeleiert und willst nur noch nach Hause. Dieses Gefühl habe ich bis jetzt noch nicht gespürt. Der Grund sind wohl die Bekanntschaften die ich knüpfe, wenn ich unterwegs bin. An einem «Collective» fühle ich mich wie zuhause. Ich kann mich ausruhen und tief durchatmen. Es scheint zu funktionieren. Wie finanzierst du dein Leben? Durch die Firma Couchsurfing International Inc.? Ja, Couchsurfing International Inc. zahlt mir ein kleines Honorar – letztendlich. Ich habe keine Ersparnisse, sondern mich tief verschuldet, um Couchsurfing zu schaffen. Alle dachten, ich sei verrückt und fragten, wieso ich keine profitorientierte Firma gründe. Ich sagte nein, das hätte ich schon erlebt. Ich will, dass Couchsurfing nicht profitorientiert arbeitet. Ich will, dass das Projekt einen anderen Ansatz verfolgt. Selbst wenn ich mich dafür verschulden musste, ist es mir egal. Die Erfahrungen und Abenteuer, die ich bis jetzt erlebte, waren es wert. Wie ist Couchsurfing International Inc. organisiert und was hast du für eine Funktion in der Firma? Ich bin der CEO, bis auf weiteres. Zur Zeit versuchen wir, diese Titel nicht allzu häufig zu gebrauchen. Als Couchsurfer lieben wir die Freiheit. Aber um eine Firma zu bauen, die eine halbe Million Leute zusammenhält, braucht es Organisation. Also versuchen wir, einen Mittelweg zwischen Freiheit und Organisation zu finden. Wir wollen diese grossen, klingenden Titel gar nicht unbedingt. Aber wir wollen uns organisieren. Die wichtigen Entscheidungen fällt das so genannte «leadership team», das aus fünfzehn Mitgliedern besteht, alles Couchsurfer. Wir arbeiten mit dem Konsens-System, alle müssen bei wichtigen Entscheidungen zustimmen. Konsens ist vielleicht keine ewige Lösung, aber es funktioniert für uns zum jetzigen Zeitpunkt. Bei einem Mehrheitssystem denken Leute: «Ich habe genug Stimmen, die restlichen Meinungen sind mir egal.» So müssen sich die Leute mehr um einander kümmern. Bei Couchsurfing gibt es viele Funktionen und Jobs mit unterschiedlicher Verantwortung. Zur Zeit werden diese Positionen auf undemokratische Weise vergeben. Könnten in Zukunft auch Leute gewählt werden? Das werden wir häufig gefragt. Ich habe vier Jahre in der Politik gearbeitet. Ich habe Kampagnen kommen und gehen sehen – lokale wie nationale. Mit dem Chef von Wikipedia habe ich viele Stunden gesprochen. Eine Vermischung von Couchsurfing mit Politik würde eine ganz neue Atmosphäre schaffen. Ich weiss nicht ob wir das wollen. Zum Beispiel die Ambassadoren, sagen wir, wir wählen sie alle demokratisch. Ich denke, das würde viel Politik kreieren. Für Kampagnen geben sich Leute häufig als etwas, was sie nicht wirklich sind. Würden wir das anstreben, wäre es nur schwierig wieder rückgängig zu machen. Also würden wir das – wenn überhaupt – nur sehr vorsichtig angehen. Ich persönlich habe noch nie schlechte Erfahrungen gemacht. Wenn man durch die Seite surft, sieht man nur sehr selten negative Bewertungen und Referenzen. Gibt es keine Missbräuche? Sicher. Das passiert von Zeit zu Zeit. Laut Statistik haben wir über Couchsurfing über 750‘000 positive Erlebnisse. Aber auch ein paar wenige negative. Es gibt zwei Arten von negativen Erlebnissen: Erstens Leute, die offensichtlich Gastgeber missbrauchen und beispielsweise Geld oder einen iPod zu stehlen. Das ist sehr selten, aber auch schon passiert. Zweitens gibt es Menschen, die einfach keinen Draht zueinander finden, die nicht miteinander auskommen. Es gibt Probleme und sie wollen nicht darüber sprechen, um es zu lösen. Ich glaube, dass das ein sehr spezieller Moment ist. Unser Leitbild von Couchsurfing ist die Förderung des interkulturellen Verständnisses. Wir wollen Leuten, die sich nicht verstehen, wirklich helfen, sich zu verstehen. Wenn wir sehen, dass jemand Probleme mit einer Person im Sinne eines Missverständnisses hat, sehen wir es als unsere Aufgabe dafür zu sorgen, dass sie sich besser verstehen. Wir sehen ein negatives Erlebnis zweiter Art also als Möglichkeit, unser Leitbild zu verwirklichen. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum es so wenig negative Referenzen gibt. Wir arbeiten zur Zeit daran, dieses System zu verbessern. Ist ein Grund für den Erfolg von Couchsurfing nicht auch einfach, dass man billig reisen kann? Couchsurfer melden sich aus verschiedenen Gründen auf der Seite an. Manche mögen sich sagen: Hey, da kann ich Geld sparen. Das mach ich! Aber das ist nur der Anfang. Irgendwann merken sie, dass es nicht nur ums Geld geht. Das ist ein netter Nebeneffekt, klar. Aber letztlich sind es die Erlebnisse, die das Reisen viel emotionaler machen. Die Verbindung zu den besuchten Orten ist viel stärker. Billiges Reisen mag der Grund sein, warum man sich zuerst anmeldet. Aber sobald man sich mit Couchsurfing vertraut gemacht hat, entdeckt man eine ganze Welt voller neuer Gründe, warum man dabei bleiben will. Im Jahr 2007 hat Couchsurfing International Inc. rund 300‘000 Dollar an Spenden eingenommen. Was macht ihr mit all diesem Geld? Das ist alles relativ. Wenn du Webdesigner bist, denkst du vielleicht, dass man eine Website für fünf Dollar im Monat aufschalten können. Also würde Couchsurfing, sagen wir, 100 Dollar im Jahr kosten? Wir haben nicht nur einen Server, sondern 25 Server, die in einer Lagerhalle in Atlanta arbeiten. Diese Server am Laufen zu halten kostet eine ziemliche Stange Geld, wenn es professionell geschehen soll. Couchsurfing hat eine ernsthafte Aufgabe zu erfüllen auf dieser Welt. Es sollte keine Grenze der Mittel geben, die wir in diese uneigennützige Mission reinstecken. Je mehr wir investieren, je grösser ist die Aussicht auf Erfolg. Also versuchen wir, soviele Mittel zu organisieren wie möglich.

Weil das Business, in welchem wir arbeiten, ziemlich komplex ist – social networking und eine gemeinnütziger Auftrag – brauchen wir Festangestellte. Wenn du ins Silicon Valley gehst und sagst, dass du eine dot.com-Firma gründen willst, die ein social network betreibt und dass alle nach Lust und Laune daran arbeiten können, wird man dich auslachen. Da brauche man Experten, würdest du hören. Ganz ohne kommen auch wir nicht aus, also brauchen wir Mittel für ein paar wenige Festangestellte.

Zum Glück gibt es dann noch Leute, die freiwillig für fast nichts arbeiten und von uns dafür etwas zum Essen, oder zum Beispiel die Miete bezahlt kriegen. Und dafür arbeiten sie 80 Stunden die Woche für Couchsurfing – wundervoll!

Diese 300‘000 Dollar, die verflüchtigen sich sehr schnell. Es verteilt sich auf Server, die Kosten für die Collectives und auf vier Festangestelle. Es ist also nicht viel. Stichwort Silicon Valley: Gründer von anderen Netzwerken wie YouTube, Facebook oder Xing haben sich mit solchen Netzwerken ein goldenes Näschen verdient. Casey Fenton, Gründer von Couchsurfing, hat Schulden. Bist du nie ein wenig neidisch? Couchsurfing arbeitet mit einer anderen Form von Profit. Diese Webseiten schauen sich die Nutzerzahlen an und messen so ihren Erfolg. Andere messen ihren Erfolg am Gewinn. Wir schauen: Wieviele Leute können hosten und surfen können sich so interkulturell verständigen? Immer wenn so eine interkulturelle Verbindung geknüpft wird, ist das eine Einheit an Profit für uns. Wir arbeiten völlig unterschiedlich. Es ist unmöglich, unsere Ziele mit den ihrigen zu vergleichen. Kritik wird einzig am Passus 5.1 der Nutzungsbestimmungen laut, wo die Nutzer alle ihre Rechte am Bildmaterial und an allen Informationen an Couchsurfing International Inc. abtreten. Wozu dient dieser Abschnitt? Ich kann genau sagen, warum. Uns sind die vielen Fotos eigentlich egal, was bringen die uns denn? Gar nichts, wirklich. Es gibt einen bestimmten Fall, wo wir ohne diese Klausel ernsthafte Probleme kriegen würden: Wenn ein Nutzer andere missbraucht. In einem Fall stahl ein Nutzer 2000 Dollar und benahm sich auch sonst sehr merkwürdig. Also handelten wir und löschten seinen Account. Er erstellte aber wieder einen neuen und belästigte andere Nutzer. Wir machten den Fall allen anderen Nutzern publik und hinterliessen eine negative Referenz. Darauf drohte dieser, dass, wenn wir seinen Account nicht sofort löschten, er uns verklagen würde. Er verlangte, alles zu löschen. Dieser Passus erlaubt es uns, auch dann die Personalien zu behalten und so auch anderen Nutzern zeigen zu können, wer der Übeltäter war. Was macht Couchsurfing so erfolgreich? Was ist die «secret ingredient»? Als Couchsurfing noch in den Kinderschuhen steckte, fragte man mich oft: Wie weiss ich, dass die Person am anderen Ende vertrauensvoll ist? Das war das Problem, das wir überwinden mussten. Wir mussten diese Person am anderen Ende übers Internet vertrauenswürdig machen. Wir bauten alles ein, was wir konnten: Freundeslisten, Referenzen, aber auch Dinge, die den Leuten tiefergehende Informationen entlocken sollten. Sachen wie: Was ist deine persönliche Philosophie? Welchen Typ Mensch magst du? Was würdest von dem Ort zeigen, an dem du lebst? Andere Seiten sagen dir einfach: Hey, beschreibe dich. Und viele Leute starren das leere Feld an und wissen nicht was schreiben. Aber wenn du sie mit tiefergehenden Fragen über sich selbst konfrontierst, schreiben sie mehr und können so denjenigen am anderen Ende der Leitung ein wenig das Gefühl geben, sich besser zu kennen.

Das ist wohl eines der Geheimnisse. Wir tun alles mögliche, um die Leute virtuell so zu verknüpfen, dass sie sich auch emotional verbunden fühlen. Was für Pläne habt ihr für Couchsurfing in der näheren Zukunft? Es soll bald Möglichkeiten geben, Reiserouten besser im voraus zu planen. Wir wollen auch versuchen die Couchsurfer, die abseits der frequentierten Städte wohnen und so selten Besuch kriegen, mehr zu integrieren. Und zum Schluss: Was bedeutet dir Zürich? Ich liebe die Stadt! Jeden Augenblick habe ich bisher genossen. Gutes Essen, immer etwas Neues zum ausprobieren. Es ist zwar ein bisschen zu teuer für mein Budget zur Zeit. Ich war ziemlich lange in Thailand, dort ist alles sehr unorganisiert. Hier kannst du auf alles zählen. Der Zug fährt auf die Sekunde. Zürich wäre ein perfekter Ort für ein «Collective», das ist sicher.