Auf dem Sofa kann er bequem nach einer Couch surfen. Stefanie Pfändler

Surfin’ the world

Wer unter Reisen Charterflüge und Kreuzfahrten versteht, hält nichts von Couchsurfing. Für alle anderen ist die Backpacking-Plattform ein Segen.

10. April 2008

Um grosse Ereignisse ranken sich bekanntlich immer Mythen. Couchsurfing soll angeblich in Island entstanden sein. Ein reisehungriger junger Kanadier namens Casey Fenton kam billig an Tickets nach Reykjavik. Nur etwas fehlte: Eine Schlafgelegenheit. Im Internet fand er eine Liste mit 1500 isländischen Studierenden. Mit Computerhilfe fragte er alle persönlich, ob er deren Couch «crashen» könne, zu deutsch «auf dem Sofa pennen». Zu Caseys grossem Erstaunen erhielt er innert eines Tages fast hundert Antworten. Warum nicht immer so reisen, dachte er sich. Als Casey auf seinen weiteren Reisen durch Häuserschluchten und Strassen spazierte, stellte sich ihm immer wieder dasselbe Problem: Wie sollte er kontaktfreudige Leute finden, die gerne einen internationalen Reisegast beherbergen würden? Das war die Geburtsstunde des Projekts Couchsurfing. Vor neun Jahren registrierte Casey die Internetseite, 2003 gründete er die Non-Profit Firma Couchsurfing International Inc. Bis heute sollen unglaubliche 370 000 Couches erfolgreich gesurft worden sein.

Übernachten im Kriegsgebiet

Ohne das Internet wäre Couchsurfing nicht möglich, die digitale Revolution hat das Backpacken denkbar einfach gemacht. Man erstellt ein Profil auf der Homepage, mit Fotos, Personalien und Interessen. Dann entscheidet man, was man anbieten will. Von einem Schwatz mit Kaffee bis zu Übernachtungsmöglichkeiten für 99 Gäste ist alles möglich. Der User kann auf der ganzen Welt nach Kriterien wie Ort, Alter, bestimmten Interessen oder Sprachkenntnissen suchen. Direkt übers System ist es möglich, die Wunschkandidaten anzufragen. Je nach Verfügbarkeit bejaht oder verneint der Gastgeber die Anfrage. Dabei gilt ein Prinzip: Das Angebot ist gratis. Ein differenziertes Bewertungssystem soll dem Missbrauch vorbeugen. Um sich vertrauenswürdiger zu präsentieren, kann man als User freiwillige 25 Dollar einzahlen. Durch einen Brief wird dann die Wohnadresse verifiziert. Diese freiwilligen Beiträge stellen die einzige Einnahmequelle von Couchsurfing dar. Zusammen mit der Mitgliederzahl sind auch die Beiträge gewachsen. Während im ganzen Jahr 2004 ungefähr 3500 Dollar eingezahlt wurden, waren es alleine im dritten Quartal 2007 (!) schon 100 000 Dollar.

Seitdem die Seite von ein paar Enthusiasten gegründet wurde, hat sich das Projekt zu einem der grössten «Reiseportale» der Welt entwickelt. Innerhalb weniger Jahre haben sich 475 000 Menschen aus 226 Nationen – auch Länder wie zum Beispiel der Irak (33 verfügbare Couchs) – registriert, über 8000 kommen wöchentlich hinzu. Zürich nimmt unter den Couchsurfern eine Spitzenrolle ein, rund 1000 Zürcher bieten Betten und Sofas für Fremde zur Übernachtung an. Das bedeutet aber nicht, dass alle User das System schon genutzt haben. Nur Wenige sind aktiv, ein grosser Teil bleibt sehr passiv.

Familie auf der ganzen Welt

Zu den Zürcher Couchsurfern gehört auch Samuel Gilg. In seiner Wohngemeinschaft am Limmatplatz logieren regelmässig internationale Gäste. «Zuerst habe ich eine Zeitlang meine Couch nur angeboten», erzählt der Jus-Student im 13. Semester, «so holte ich ein internationales Flair in meine Wohnung.» Unterdessen war Gilg in Israel unterwegs. «Wenn du auf diese Art reist, erfährst du sehr viel über die lokale Kultur, und das mit wenig Anstrengung», erzählt er. Als Tourist habe man situationsbedingt meistens gegenläufige Interessen mit der einheimischen Bevölkerung, vor allem in armen Ländern. Couchsurfing überwinde diese Diskrepanz. Auch Annia Rüesch, angehende Psychologie-Studentin aus Uster ist begeisterte Couchsurferin. «Du fühlst dich wie zuhause, wie wenn du bei Bekannten wärst.» Man sehe das Land aus einer ganz anderen Perspektive. Als sie beispielsweise nach Indien reiste, kam ihre Gastfamilie an den Flughafen und holte sie ab. Mit einem anderen Gastgeber ging sie ins Kino, um einen vierstündigen Film in Hindi zu schauen. Der Inder übersetzte ihr die Dialoge während vier Stunden simultan ins Englische. «Oder in Dubai, da schenkte mir die Grossmutter eines Couchsurfers Stoff, damit ich mir zuhause ein ‹richtiges› Kleid nähen könne,» erzählt sie weiter. Diese Erlebnisse sind es, die das Couchsurfing von anderen Reisen unterscheiden.

Allerdings ist das Portal nichts für komfortable Luxusreisen, dementsprechend ist auch das Alter der Nutzer: Die Hälfte von ihnen ist zwischen 18 und 24 Jahre alt. Aber auch rüstige Senioren bieten Betten und Sofas an. Wie überall ist die Kommunikationssprache Englisch, über 80 Prozent können sich darin verständigen.

Das Portal schrieb erst zwei Negativschlagzeilen. 2006 ging aufgrund eines Computercrashs die ganze Seite verloren und musste komplett neu aufgebaut werden. Die Zweite betraf, wie bei vielen solchen Portalen, den Datenschutz. Denn wer in die Nutzerbestimmungen einwilligt, überträgt Couchsurfing das Recht, alle persönlichen Daten und Fotos weiterverwenden zu dürfen.

Zürcher Community wächst

Zusammengehalten wird das Netzwerk von Freiwilligen. Unzählige Surfer beteiligen sich online an Übersetzungen, an der Programmierung neuer Elemente oder an der Öffentlichkeitsarbeit. Regelmässig organisiert das Kernteam so genannte «Collectives», das letzte in Thailand. In einem gemieteten Haus treffen sich jeweils knapp drei Dutzend Leute, die am Projekt mithelfen wollen. Diese arbeiten 100% dafür – solange sie Lust und Zeit haben. Als «ambassador» für die Region Zürich ist Jonas Häfele zuständig. «Ich helfe die Zürcher Community aufzubauen und Neuen, sich zurecht zu finden», sagt Häfele. Die Zürcher Gemeinschaft ist mittlerweile auf gutem Weg. Unterdessen finden monatliche Meetings mit 50 bis 100 Leuten statt, in Lokalen wie zum Beispiel dem «les halles». «Das sind informelle Anlässe, man trifft sich und plaudert», erklärt Häfele, «jedes Mal organisiert jemand anders ein solches Meeting.» Wer Häfele sprechen hört, spürt, dass er mit Leib und Seele hinter dem Projekt steht. Mehrere Stunden in der Woche wendet der Kunststudent für Couchsurfing auf. Wichtig ist für ihn, dass man sich nicht mit eigennütziger Absicht bei Couchsurfing anmeldet. «Couchsurfer sind keine Gratishotels. Wenn du eine Couch surfst, besuchst du Freunde», sagt Häfele. Leute, die einfach nach gratis Übernachtungsmöglichkeiten suchen würden, seien fehl am Platz.

Couchsurfing wird weiter wachsen. Wie andere Bereiche des Lebens hat das Internet inzwischen auch das Back-packing revolutioniert. Zu Recht. Eine so simple, elegante und entzückende Art zu reisen gab es noch nie.