Trifft die Laborratte die einzelnen Sprossen? PD

Revolution der Medizin

Werden Querschnittlähmungen bald heilbar? Das Institut für Hirnforschung der Uni Zürich gibt Anlass zur Hoffnung auf eine Regeneration nach frischen Rückenmarkverletzungen.

10. April 2008

Die Laborratte darf schwimmen, aber es soll kein Vergnügungsbad werden. Sie muss im Dienste der Wissenschaft paddeln. Im engen Wasserkanal werden dabei ihre Schwimmbewegungen mittels eines Spiegels am Kanalboden analysiert. Am Ende der Wasserstrasse muss sie schliesslich noch eine Leiter passieren, und fertig ist der Parcours. Peanuts für eine gesunde Ratte! Kommt doch der Ausdruck «Wasserratte» nicht von ungefähr! Doch wie sieht es aus, wenn dabei ihr Rückenmark partiell verletzt wird und ein Hinterbein infolge davon teilweise gelähmt ist?

Neutralisierende Nogo-A-Antikörper

Mit der beschriebenen Versuchsanordnung untersuchte das Forscherteam unter Professor Martin Schwab die funktionelle Erholung von Ratten nach einer Rückenmarkverletzung, wenn sie mit der neuen therapeutischen Substanz (Nogo-A-Antikörpern) behandelt wurden. Man verglich dabei den Bewegungsumfang und die Bewegungsqualität einer verletzten mit der einer gesunden Ratte. Solche Schwimm- und Lauftests von Ratten waren nur einige Stationen auf dem langen Weg bis zum Verständnis des Nervenwachstums. Denn bisher galt eine Schädigung im Rückenmark als kaum therapierbar.

Ende der 80er Jahre erkannte Professor Schwab vom Institut für Hirnforschung an der Uni Irchel, dass ein bestimmtes Eiweiss, Nogo-A, das Wachstum von Nervenfasern im erwachsenen Rückenmark hemmt. Das Forscherteam arbeitete fortan daran einen Antikörper zu entwickeln, der die wachstumshemmende Wirkung von Nogo-A neutralisieren sollte. Denn wenn es gelänge, diese Substanz zu beseitigen, könnten Nervenfasern zum Teil wieder auswachsen, und auch unverletzte Nerven könnten spriessen und Funktionen der verletzten Nerven übernehmen. Die Wirkung neutralisierender Antikörper konnte in zahlreichen Experimenten mit Zellkulturen, bei Ratten, Mäusen und Affen bestätigt werden. Allerdings sollte die Therapie in den zwei Wochen nach der Verletzung statt finden, um einen möglichst grossen Erfolg zu erzielen. «Da wir das Nervenwachstum nicht kontrollieren können, war es in unseren Versuchen wichtig zu zeigen, dass es zu keinen Nebenwirkungen wie etwa zu tumorartigen Prozessen führte», sagt Dr. Anita Buchli, Wissenschafts-Koordinatorin in Schwabs Team. Um heraus zu finden, ob die Therapie mit Nogo-A-Antikörpern auch am Menschen funktioniert, laufen erste klinische Studien, unter anderem am Paraplegikerzentrum Balgrist in Zürich. Schwab äusserte sich in einem Interview gegenüber der Sonntagzeitung vom letzten Herbst zum Verlauf der klinischen Studie. Er sei sehr zufrieden, es laufe alles gut und es könnten keine Nebenwirkungen beobachtet werden. Phase II der Studie umfasst bis zu 250 Patienten. Buchli dämpft aber allzu unrealistische Erwartungen an die Therapie: «Nach einer schweren Rückenmarkschädigung werden nie alle Funktionen wieder erlangt werden.» Bei einer leichteren Schädigung können Patienten aber mit einer schnellen und intensiven Reha wieder ein normales Leben führen. Wasserratte sei Dank!

Information

Ein Patient mit einer Rückenmarkverletzung fühlt sich wie entzwei geschnitten. Denn eine Schädigung des Rückenmarks hat eine teilweise bis vollständige Lähmung und einen Empfindungsverlust im Körperteil unterhalb der Verletzungsstelle zur Folge. Zusammen mit dem Hirn bildet das Rückenmark das Zentralnervensystem und stellt die Kommunikation zwischen Gehirn, inneren Organen, Muskeln und der Haut sicher. Im fingerdicken Rückenmark, dem Kommunikationshighway des Körpers, verlaufen alle vom Hirn ab- und aufsteigenden Nervenbahnen, insgesamt mehrere Millionen Nervenfasern. Absteigende Bahnen regulieren dabei etwa Körpertemperatur und Eingeweidemuskulatur. Aufsteigende Nervenfasern transportieren Sinneseindrücke von Haut und Organen, wie zum Beispiel ein Sättigungsgefühl. Im Gegensatz zum Zentralnervensystem können im peripheren Nervensystem, wozu alle Nervenbahnen ausserhalb von Gehirn und Rückenmark zählen, Nervenfasern wieder neu auswachsen.