ZS, Januar 1993

Ratten im Weltraum

Hunger. Krebs. Ein geradezu sensationeller Mangel an Neuigkeiten. Es war Journalismus unter Lebensgefahr.

22. Februar 2008

- Constantin Seibt über seine Zeit bei der ZS

Alle hatten das Backsteinhaus verlassen, als wir einzogen. Alle, ausser den Ratten. Und auch die wären gerne gegangen. Ihr Angstschweiss und ihr Kot durchtränkten das ganze Haus. Es waren Laborratten, und sie hausten unter dem ZS-Redaktionsbüro. Die letzten Benutzer der Räume waren vier Soziologieprofessoren gewesen. Sie waren in Panik geflohen, als der dritte von ihnen die Diagnose Krebs erhielt. Irgendwelches Zeug musste von unten herauf gekrochen sein.

Und nun kamen wir. Wir waren eine fast komplett neue Mannschaft. Es war in dem Jahr, als der VSETH aus der ZS ausgestiegen war – sogar die brave Zeitung unserer Vorgänger war ihm zu unberechenbar geworden. Mit dem VSETH ging das Geld. Die ZS war so gut wie pleite.

Das erste, was wir taten, als wir in das verlassene Gebäude in der Birchstrasse in Oerlikon einzogen, war, unter dem Geruch zu leiden. Das zweite: Die letzten drei Jahrzehnte der 70 Jahrgänge ZS durchzusehen. Wir sahen schnell, dass die ZS eigentlich nur zu zwei Zeitpunkten richtig gut war: um 1968 und um 1980 – also als draussen der Teufel los war.

Damit stand unser journalistisches Hauptproblem fest: Draussen an der Uni und in Zürich war nicht der kleinste Teufel los. Ein Jahr vorher hatte zwar eine kurze, überraschend heftige, sehr wirre, völlig folgenlose Revolte stattgefunden: die «Unitopie». Seither wurde nur brav studiert. Im Grunde genommen war es ein Massentraining für spätere Beamte: Aus interessanten Ausgangsstoffen wurden uninteressante Akten angelegt – Berge von unlesbaren Seminararbeiten.

Unsere Folgerung: Wenn kein Teufel los war, mussten wir ihn selber sein. Wir entschlossen uns zu dem Konzept Raumschiff: Die Zeitung zu machen, ohne auf die Uni als Themengeber zu hoffen. Und aus der Lage ohne Geld das Beste zu machen: unsere bitterarme Freiheit nutzen.

Freiheit, das hiess Freiheit der Themen, der Formen, der Umgangsformen. Die Schnarchblätter der Konkurrenz – besonders das neue VSETH-Schnarchblatt Polykum – wurden ohne Rücksicht angegriffen. Als grausamste Form stellte sich das nackte Zitat der dümmsten Passagen heraus. Dann versuchten wir altbekannte linke Texte neu zu schreiben. Die Armee etwa wurde plötzlich nicht mehr als unmoralisch, sondern als Karrierehindernis dargestellt – weil Armeekader für komplexe Unternehmen zu dumm, zu ungeschickt, zu oft weg, zu teuer waren. Illustriert war das Titelblatt zu dieser Story mit einem unendlich geschafft aussehenden Mann, dessen Foto wir aus einer Readers-Digest-Geschichte zum Thema «Depression» geklaut hatten. Die Schlagzeile dazu: «Er ist Offizier». Und in der Nebengeschichte gaben wir Tipps zum Armeeausstieg für Karriereristen. Das traf. Leserbriefe kamen, Morddrohungen auch und ein UBS-Inserateboykott.

Die VPM-Lieblinge (Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis, Anm. der Red.), die damals die Universität zu unterwandern versuchten, stellten uns ein anderes Problem: Sie klagten damals alle Kritiker ein. Und schon der kleinste Prozess hätte uns ruiniert. Wir gründeten deshalb den VTM – den Verein Technischer Menschenkenntnis, die einzige wahre Sekte. Dieser schrieb gegen den VPM, dass dieser fälschlicherweise «totalitär» oder «eine Sekte» genannt werde, das aber falsch sei und die Medien den VTM totschwiegen – um Leute mit richtigen totalitären Bedürfnissen fehlzuleiten. So konnten wir scharf schiessen, ohne eingeklagt zu werden.

Auch die langweilige Uni-Politik versuchten wir interessanter zu machen, indem wir etwa eine Diskussion mit dem Rektor wie ein Fussballspiel schilderten. Und politische Statements in den Fortsetzungsroman «Die blutende Gurke» einbauten.

Daneben schrieben wir auch seriöse Artikel, sicher. Aber wir dramatisierten und wir sparten, wo wir konnten. Als Fotoarchiv diente uns eine Schachtel mit 100 immer gleichen Fotos – die wilderen unter ihnen wurden mehrmals verwendet: Ein Bild von einer Zahnoperation kam in drei Monaten drei Mal zu völlig unterschiedlichen Artikeln – immer mit einer anderen Legende.

Und immer wieder wurde das Gehalt gekürzt. Wir lebten von Spaghetti und Brot. Wir arbeiteten meist die letzten zwei Nächte vor Redaktionsschluss durch – von Zeit zu Zeit schlief jemand auf dem schmalen grünen Redaktionssofa. Es war so schmal, dass man beim Umdrehen jeweils auf den Boden krachte. Dann stand man auf und arbeitete weiter. Die nächtelange Arbeit hatte einen grossen Vorteil: währenddessen konnte man nicht Geld ausgeben, das man nicht hatte.

Die Uni sah kaum einer von uns während dieser ganzen Zeit. Sie erschien immer ferner, dünner, schaler. Wir bestiegen nur noch das Raumschiff der Redaktion, starrten in die grünen Vierecke der Computer und rochen nach Ratte.

Einige schafften es danach wieder ins Studium, zurück in die reale Welt. Ich nicht. Es war eine glückliche Zeit.

Constantin Seibt, 41, arbeitete 1992 und 1993 für die ZS. Darauf glitt er in den Journalismus ab: erst als freier Journalist, seit 1997 festangestellt für die WoZ. Seit 2006 ist er Reporter des Tages-Anzeigers. Er schrieb einen Krimi, einen Short-Story-Band, eine Kolumnensammlung und als letztes das Sachbuch «Der Swissair-Prozess».